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Der verschlungene Weg zum (oder rund um das)<br>„Nature Restoration Law“ der EU

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Quo vadis Nature Restoration Law (NRL)?

Der verschlungene Weg zum (oder rund um das)
„Nature Restoration Law“ der EU

Eine recht persönliche Zwischenbilanz

Daniel Hering, Universität Duisburg-Essen, Abteilung Aquatische Ökologie

Das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur (Nature Restoration Law, NRL) sollte am 25.3.2024 vom Ministerrat der EU verabschiedet werden. Die Abstimmung wurde jedoch verschoben, da sich keine qualifizierte Mehrheit abzeichnete. Damit ist fraglich, ob das Gesetz, ein zentraler Bestandteil des “Green Deal”, überhaupt verabschiedet werden wird.

In der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ erschien kürzlich ein Artikel zum politischen Engagement von Wissenschaftler*innen1. Die Aussage: Wissenschaftler*innen sollen sich nicht als Aktivisten betätigen. Dafür gäbe es die NGOs. Die Rolle der Wissenschaft sei, neben der Forschung, die faktenbasierte Beratung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen.

So sehr ich dieser Aussage im Allgemeinen zustimme: die derzeitige gesellschaftliche Diskussion über Umweltpolitik in Europa macht es engagierten Wissenschaftler*innen wahrlich nicht leicht. Selber habe ich in den letzten Monaten wohl einen Zeh über die Grenze zum Aktivismus gesetzt, andere Kollegen sind noch etwas weiter gegangen.

Worum geht es?

Die EU Kommission und ihre Vorsitzende Frau von der Leyen hatten sich ein sehr ambitioniertes umweltpolitisches Programm vorgenommen, das unter dem Schlagwort „Green Deal“ vermarktet wurde. Ich maße mir nicht an, die Umsetzung dieses milliardenschweren Programms zum Umbau der europäischen Wirtschaft auch nur ansatzweise zu überblicken, aber in meinem kleinen Interessenbereich – Wasser, Naturschutz, Landwirtschaft – beobachten wir seit etwa vier Monaten, dass nicht nur die Ziele des Green Deal im Rekordtempo kassiert werden, sondern nebenbei auch die europäische Naturschutzpolitik um etwa 20 Jahre zurückgedreht wird. Dies alles ohne große öffentliche Diskussion und Partizipation und offensichtlich getrieben von der Sorge, die ländliche Bevölkerung an extremistische Parteien zu verlieren.

Landwirt der Pestizide ausbringt

Den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln bis 2030 zu halbieren wurde abgelehnt. Die Zulassung des Herbizids Glyphosat verlängert.

  • Die geplante „Sustainable Use Regulation“ hatte zum Ziel, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln bis 2030 zu halbieren – sie wurde zunächst im Europa-Parlament abgelehnt und dann von der Kommission kassiert.
  • Die Zulassung des Herbizids Glyphosat wurde hingegen von der Kommission im Dezember 2023 um zehn Jahre verlängert.
  • Die Pflicht zur Stilllegung von mindestens 4 % der Ackerflächen wurde erst für 2023 und jetzt erneut für 2024 ausgesetzt.
  • Und schließlich billigten die EU-Mitgliedsstaaten eine weitgehende Lockerung der EU-Umweltauflagen für die Landwirtschaft für den Zeitraum 2023-2027.
  • Vor allem aber steht das „Gesetz zur Wiederherstellung der Natur“ (Nature Restoration Law, NRL), ein Kernelement des „Green Deal“, auf der Kippe.

Diskutiert seit etwa zwei Jahren, durchlief das NRL den üblichen gesetzgeberischen Prozess auf EU-Ebene. Die Endfassung ist damit ein typischer europäischer Kompromiss. In vieler Hinsicht wirkt es eher „old fashioned“: Die neueren Diskussionen, z.B. zu Ökosystem-Leistungen, werden vom NRL allenfalls angerissen. Und natürlich lässt sich darüber streiten, ob angesichts von Klima- und Landnutzungswandel eine „Renaturierung“, also eine Wiederherstellung früherer Zustände, überhaupt ein erstrebenswertes Ziel ist oder ob wir uns nicht besser auf die Optimierung der zukünftigen Zustände konzentrieren sollten. Diese Themen waren offensichtlich auch für die Befürworter eines ambitionierten NRL zu, nun ja, ambitioniert, ungewöhnlich und konfliktträchtig. Daher fokussiert das NRL auf klassischen Naturschutz, vor allem auf Lebensräume und Arten, die bereits von der Fauna-Flora-Habitatrichtlinie geschützt sind.

Ackerbrache

Die Pflicht zur Stilllegung von mindestens 4 % der Ackerflächen wurde ausgesetzt (das Foto zeigt eine stillgelegte Ackerfläche)

Vorteile

Dennoch ist das NRL ein großer Schritt vorwärts, vor allem, wenn wir es mit dem trübseligen Zustand und der schleppenden Umsetzung vieler anderer europäischer Umweltrichtlinien und -verordnungen vergleichen. Vor allem ist erfreulich, dass das NRL Fehler vermeidet, von denen die Umsetzung europäischer Rechtsvorschriften oft beeinträchtigt wird. Die sich daraus ergebenden Chancen und Risiken der Umsetzung haben wir hier analysiert:

So kann es unmittelbar umgesetzt werden und erfordert keine jahrelangen Entwicklungen von Bewertungsverfahren und Indikatoren, wie z.B. bei der Wasserrahmenrichtlinie. Es werden klare und verbindliche Ziele benannt – wie diese Ziele erreicht werden, ist jedoch den Mitgliedstaaten überlassen. Die Erreichung dieser Ziele ist zeitlich gestuft und mit Zwischenschritten versehen: ein Vorteil gegenüber den unflexiblen und häufig unrealistischen Zeitplänen anderer Richtlinien und Verordnungen.

Inhalt

  • Kapitel 1 des NRL definiert die übergeordneten Ziele (kontinuierliche Erholung der Natur, Erfüllung der Klimaziele und internationaler Regelungen) und definiert zentrale Begriffe: Günstiges Referenzgebiet (Mindestfläche, um die langfristige Lebensfähigkeit eines Lebensraumtyps zu gewährleisten), guter Zustand (Merkmale, die einen günstigen Erhaltungszustand z.B. nach der FFH-Richtlinie gewährleisten), sowie ausreichende Qualität und Quantität des Lebensraums (Bedingungen, die eine Art benötigt, um sich langfristig zu erhalten).
  • Das zentrale Kapitel 2 definiert zunächst für Natura 2000-Gebiete Ziele und Zeitvorgaben, um einen guten Zustand zu erreichen (30 % bis 2030, 60 % bis 2040, 90 % bis 2050). Anschließend werden Ziele für verschiedene Lebensraumtypen definiert. Für Agrarökosysteme wird beispielsweise gefordert, eine steigende Tendenz auf nationaler Ebene bei zwei der drei Indikatoren „Grünland-Schmetterlingsindex“, „Bestand an organischem Kohlenstoff in Acker-Mineralböden“ und „Anteil der landwirtschaftlichen Flächen mit Landschaftsmerkmalen hoher Vielfalt“ zu erreichen. Zudem gibt es Ziele zur Wiederherstellung organischer Böden in landwirtschaftlicher Nutzung (entwässerte Moore): 30 % (bis 2030), 40 % (bis 2040) und 50 % (bis 2050).
  • All dies soll gemäß Kapitel 3 mit nationalen Renaturierungsplänen ins Werk gesetzt werden, wobei die Mitgliedsstaaten selber entscheiden dürfen, ob sie z.B. Mittel der Gemeinsamen Agrarpolitik für diese Zwecke einsetzen. Eine der Ausstiegsklauseln erlaubt es den Mitgliedsstaaten, die Umsetzung des NRL auf landwirtschaftlichen Flächen auszusetzen, wenn die landwirtschaftliche Produktion in Gefahr ist.

Politik

Es ist nicht überraschend, dass das NRL kontrovers diskutiert wurde und Emotionen hervorruft. Vor allem der Umstand, dass es im Gegensatz zu vielen Strategien, Politiken und Richtlinien klare Ziele und Deadlines benennt, also Verbindlichkeiten schafft, weckt Hoffnungen und Ängste. Entsprechend vehement wurde um Details gestritten, wobei teils regelrechte Desinformationskampagnen in Gang gesetzt wurden. Guy Pe’er et al.3 haben sich die Mühe gemacht, einige der besonders hartnäckig vorgetragenen Gegenargumente einem Faktencheck zu unterziehen:

  • 10% der landwirtschaftlichen Fläche müssten aus der Produktion genommen werden (→ ein Argument, das auch dann noch wiederholt wurde, nachdem der entsprechende Passus so nicht mehr im Entwurf des NRL auftauchte);
  • massive Ernteverluste würden drohen (→ die entsprechenden Berechnungen basierten allein auf einer avisierten Reduktion des Pflanzenschutzmittel-Einsatzes, ohne die damit assoziierten positiven Effekte zu berücksichtigen);
  • die Ernährungssicherheit sei bedroht (→ die EU hätte selbst bei geringen Produktionsrückgängen viele Stellschrauben, um die Ernährungssicherheit weiter zu garantieren, gar nicht zu reden von der Tatsache, dass über 60% der Anbauflächen in Europa der Futtermittelproduktion dient);
  • die Fischereierträge würden zurückgehen (→ kontroverser Punkt, aber es gibt Hinweise darauf, dass Meeresschutzgebiete den Fischereiertrag auch erhöhen können) und
  • ein Verlust von Arbeitsplätzen in ländlichen Regionen würde drohen (→ dazu gibt es keine überzeugenden Prognosen oder Studien).
  • Besonders häufig wurde auf den Krieg gegen die Ukraine abgehoben: in diesen Zeiten müsste die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse im Vordergrund stehen, schon da massive Ernteausfälle in der Ukraine drohten (→ der zwischenzeitliche Anstieg der Getreidepreise wurde bis Anfang 2023 weitgehend aufgefangen).

Gesetzgeberischer Prozess

Europäische Rechtsvorschriften, üblicherweise von der Kommission vorbereitet, werden im Europa-Parlament zunächst in den entsprechenden Fachgremien behandelt (beim NRL ist der Umweltausschuss zuständig). Im Falle eines positiven Votums folgen „Trilog“-Verhandlungen zwischen Vertretern von Kommission, Parlament und Ministerrat (Council). Das Ergebnis dieser Verhandlungen muss abschließend noch von Parlament und Ministerrat separat verabschiedet werden – dies ist meist eine Formsache.

Im Fall des NRL glich dieser gesetzgeberische Prozess jedoch einer Achterbahnfahrt. Schon im Umweltausschuss des Parlaments gab es zunächst ein Patt von Befürwortern und Gegnern. Erst eine nachverhandelte und deutlich abgeschwächte Version wurde dann vom Umweltausschuss verabschiedet. Weitere Modifikationen ergaben sich im Trilog. Die nun mit etlichen Ausstiegsklauseln versehene Version hätte normalerweise die Abstimmungen im Parlament und im Ministerrat problemlos passieren müssen – inzwischen hatte sich die Stimmung jedoch gedreht. Am Vorabend der Abstimmung im Parlament entschied die Europäische Volkspartei (EVP), gegen das NRL zu stimmen. Auch da nicht alle EVP Abgeordneten dieser Weisung folgten, wurde das NRL dennoch mit knapper Mehrheit verabschiedet.

Für den 25.3.2024 war abschließend die Abstimmung im Ministerrat angesetzt. Hier ist eine qualifizierte Mehrheit erforderlich, das heißt, es müssen Mitgliedsstaaten mit insgesamt 65% der EU-Bevölkerung zustimmen. Insofern war es wichtig, dass sich Deutschland trotz interner Differenzen in der Koalition wenige Tage vor der Abstimmung klar pro NRL positioniert. Dennoch: Schweden, Polen, Italien und die Niederlande kündigten an, gegen den Kompromiss zu stimmen; Finnland, Belgien und Österreich planten, sich zu enthalten. Als zwei Tage vor der Abstimmung dann auch Ungarn „umfiel“ und eine Ablehnung ankündigte, gab es keine qualifizierte Mehrheit mehr. Die Abstimmung wurde daher zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben und wird ggf. im Juni wiederholt.

Rolle „der Wissenschaft“

Wissenschaftler*innen haben sicherlich bzgl. des NRL sehr unterschiedliche Ansichten. Aber angesichts des allgemeinen Biodiversitätsverlustes, des vielversprechenden NRL-Ansatzes und der zeitweilig entgleisenden öffentlichen Diskussion haben sich viele Wissenschaftler*innen klar pro NRL positioniert. Der bereits oben erwähnte Kommentar zu verbreiteten Falschinformationen und Halbwahrheiten3 wurde von mehr als 6000 Wissenschaftler*innen unterschrieben. Im Vorfeld der Parlamentsabstimmung schrieben Wissenschaftler*innen alle 704 Abgeordnete des Europäischen Parlaments in der jeweiligen Landessprache an, wiesen auf die Vorteile des NRL hin und schickten die in Science erschienene Analyse mit.

... Wissenschaftler*innen haben sich klar pro Nature Restoration Law positioniert ...

Aktivismus? Vermutlich schon, aber ich halte es für gerechtfertigt. Denn es herrscht keine “Waffengleichheit”. Die Gegner des NRL sind vor allem über die großen landwirtschaftlichen Organisationen hervorragend organisiert und betreiben perfekten Lobbyismus. Die NGOs als Counterpart haben keine vergleichbaren Ressourcen. Gerade in der Öffentlichkeitsarbeit werden von Gegnern des NRL häufig einfache Behauptungen aufgestellt, die leicht verfangen; Stichworte: Ernährungssicherheit, Krieg in der Ukraine, Bürokratie. Diese kritisch zu hinterfragen und ggf. zu widerlegen, ist zeitaufwändig und erfordert häufig spezielles Fachwissen aus verschiedenen Bereichen. Hier ist Unterstützung durch Wissenschaftler*innen zwingend erforderlich. Diese Positionen dann auch engagiert zu vertreten, fällt meiner Erachtens durchaus in den Aufgabenbereich von Wissenschaftler*innen.

Wie geht es nun weiter?

Der Ausgang des Krimis ist unklar. Vielleicht findet der Ministerrat noch eine Möglichkeit, das NRL ohne Gesichtsverlust für die derzeit ablehnenden Staaten über die Ziellinie zu bringen. Die anstehenden Europa-Wahlen machen dies nicht einfacher.

Klar ist: wenn das NRL letztlich verabschiedet werden sollte, wird es den europäischen Natur- und Ressourcenschutz in den nächsten Jahrzehnten ähnlich prägen wie die FFH-Richtlinie oder die Wasserrahmenrichtlinie.

1 https://www.zeit.de/2024/13/aktivismus-wissenschaft-objektivitaet-forschung-soziologie (Online; abgerufen: 28.3.2024)
2 https://www.science.org/doi/full/10.1126/science.adk1658?af=R (Online; abgerufen: 28.3.2024)
3 Guy Pe’er et al. (2024): Role of science and scientists in public debates around environmental policy negotiations: the case of nature restoration and agrochemical regulation in the European Union. (https://zenodo.org/records/10631871)

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Pflanzengesellschaft des Jahres 2024

Pflanzengesellschaft des Jahres 2024: Sumpfdotterblumenwiese

Reptil des Jahres 2024

Reptil des Jahres 2024: Kreuzotter (Vipera berus)

Schmetterling des Jahres 2024

Schmetterling des Jahres 2024: Mosel-Apollofalter (Parnassius apollo)

Orchidee des Jahres 2024

Orchidee des Jahres 2024: Große Händelwurz (Gymnadenia conopsea)

Wildtier des Jahres 2024

Wildtier des Jahres 2024: Westigel (Erinaceus europaeus)

Fliegen

Fliegen in Deutschland

Wanzen

Wanzen in Deutschland

Heuschrecken

Heuschrecken in Deutschland

Libellen

Libellen in Deutschland

Tagfalter

Tagfalter in Deutschland

Online: https://www.deutschlands-natur.de/themen/nature-restoration-law-nrl/
Datum: 28.04.2024
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